Eines der tiefsten menschlichen Bedürfnisse darf man wohl das Verlangen nennen, gerecht behandelt zu werden; wird es nicht beachtet, fühlen wir uns zutiefst verletzt, sodass wir je nach Persönlichkeitsstruktur in Resignation versinken oder in Wut geraten, die in der Versuchung münden mag, Gleiches mit Gleichem zu vergelten, also den Pfad der Moralität zu verlassen. Dieser Versuchung widersteht Aschenputtel, der schweres Unrecht widerfährt von Stiefmutter und Stiefschwestern, indem sie treu festhält an dem Vermächtnis ihrer Mutter, die ihr auf dem Sterbebett dringend rät, immer gut und fromm zu sein. Gut bleibt sie, sie läßt sich nicht zu Racheakten hinreißen. Aber was bedeutet es, fromm zu leben? Heißt das, alles Unrecht zu ertragen in der Hoffnung auf einen jenseitigen Ausgleich, wie man vom Podest des kritischen Verstandes vermuten könnte? Aschenputtel gibt uns die Antwort, dass es auch im diesseitigen Leben frommt, fromm zu sein; Immoralität engt unsere Perspektive immer weiter ein, während umgekehrt das Gutsein und Güte unsere Möglichkeiten erweitert, gewissermaßen die subjektive Grenze zwischen Welt und Anderswelt verschiebt; so kann es Aschenputtel gelingen, ihre Ziele zu erreichen, indem sie auf die Unterstützung der anderen Welt setzt, teilweise in Form einer beseelt gedeuteten Natur, und konsequent daran arbeitet, diese Hilfe auch in Anspruch zu nehmen. Sie weint am Grab ihrer Mutter, um ihr seelisches Gleichgewicht nicht völlig zu verlieren, sie pflanzt dort einen Haselstrauch, der ihr später die schönsten Kleider verschaffen wird, sie bittet um die Mitarbeit der Vögel, um die scheinbar unlösbaren Aufgaben zu bewältigen. So setzt sie der herzlosen Willkür gewissermaßen Kreativität und Synergie entgegen, um schließlich das zu bekommen, was ihr zusteht.