Weisheit

Paris wählt Aphrodite zur schönsten Göttin, ein junger Mann erhofft sich in der Regel am meisten von der Liebe. Hera, die Ehe und Familie behütet, und die weise Athene gehen leer aus. Seine Entscheidung, so verständlich sie erscheinen mag, zeitigt fatale Folgen, sie führt zu einem großen Krieg und zum Untergang seiner machtvollen Heimatstadt. Aphrodite verspricht ihm nämlich Helena als Lohn, die als schönste Frau ihrer Zeit gilt; da sie aber verheiratet ist, muss er einen Ehebruch begehen, um sie zu gewinnen, womit er natürlich Hera gegen sich aufbringt. Hätte er sich doch mit Athene beraten, um herauszufinden, wie man weise handelt!
Warum muss Paris unbedingt auf Helena bestehen, wo doch Aphrodites Anwesenheit jedes weibliche Wesen in die schönste Frau der Welt verwandeln kann, da man doch jeden geliebten Menschen als schön empfindet, keineswegs aber jede Schönheit liebt? Nun wird vieler Orts der Brauch gepflegt, die Phase der Verliebtheit zu nutzen, um eine verbindliche Partnerschaft mit Rechten und Pflichten zu begründen. So betrachtet arbeiten Aphrodite und Hera gewissermaßen
Hand in Hand: Ohne den unwiderstehlichen Glanz Aphrodites wäre es heutzutage sicherlich schwer, zwei Menschen zu einer Ehe zu bewegen, und ohne Hera würden wir sozusagen ein Leben lang auf der Stelle treten, indem wir uns von einer Verliebtheit zur nächsten hangelten. Vielleicht hängt es vom Alter ab, welche Göttin wir bevorzugen, vielleicht kommt es uns so vor, Aphrodite regiere nur sehr kurz unser Leben, um dann jahrzehntelang Hera Platz zu machen.
Vielleicht hätte Paris den Apfel in drei gleiche Teile spalten sollen, um keine Göttin zu verärgern, vielleicht wäre ihm dann ein langes Leben gewährt worden, und am Ende seiner Tage hätte er sicherlich auch Athene zu schätzen gewusst, die, wenn Aphrodite uns längst nicht mehr anzuschauen scheint, standhaft und jugendlich an unsere Seite schreitet, um die Essenz unseres Daseins zu ergründen.